Zwischen Barrieren und Begegnungen

Die Ausstellung „Lebenswelten gering Literalisierter“ an der VHS ist eröffnet

Es gibt diese Momente, in denen das Ungesagte plötzlich eine Stimme bekommt. Momente, in denen das Unsichtbare sichtbar wird. Die Eröffnung der Ausstellung „Lebenswelten gering Literalisierter“ und „Das Leben ist mehr als …“ an der Volkshochschule Essen war genau solch ein Moment – eine Veranstaltung, die unter die Haut ging.

Als VHS-Direktor Stephan Rinke die Anwesenden begrüßte, ahnte man bereits: Hier geht es nicht um abstrakte Konzepte, sondern um echte Menschen und ihre Geschichten. Die Erste Bürgermeisterin Julia Jacob betonte in ihrer Ansprache die Bedeutung solcher Initiativen für eine Stadt, die niemanden zurücklassen will – ein Bekenntnis, das in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Gräben wichtiger erscheint denn je.

Mehr als Zahlen: Die Realität von über sechs Millionen Menschen

Was dann folgte, war kein gewöhnlicher Programmpunkt. Tabea Hower, an der VHS Essen zuständig für den Bereich „Fotografie, Malen, Gestalten und Alphabetisierung für Deutschsprachige, machte in ihrer Rede deutlich, worum es wirklich geht: „Für über sechs Millionen Menschen in Deutschland ist ein Leben ohne selbstverständliches Lesen und Schreiben Realität – und doch sprechen nur wenige darüber.“ Ein Satz, der im Raum stehen blieb, während die Blicke der Anwesenden über die eindrucksvollen Bildtafeln wanderten, die auf drei Etagen die Perspektiven der Betroffenen zeigen.

Starke Worte, zitternde Hände

Der Höhepunkt des Abends: Fünf Teilnehmende aus den Lese- und Schreibkursen der VHS Essen traten ans Mikrofon. Mit zitternden Händen, aber fester Stimme trugen sie selbst verfasste Texte vor – entstanden teilweise in der Schreibwerkstatt der Billebrinkhöhe, wo Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam kreativ werden. Es waren Worte, die nicht poliert klangen, nicht eingeübt, nicht perfekt – und gerade deshalb den Raum mit einer Authentizität füllten, die niemanden unberührt ließ. Manche Zuhörer blinzelten verstohlen Tränen weg.

Wo Barrieren wirklich abgebaut werden

„Dies ist ein Ort der Begegnung und des gemeinsamen Lernens“, fasste Susanne Asche, erste Vorsitzende des Vereins der Freunde und Förderer der Volkshochschule Essen e. V., zusammen, sichtlich bewegt von den vorgetragenen Texten. Die VHS zeigte sich einmal mehr als ein Raum, in dem Barrieren nicht nur thematisiert, sondern tatsächlich abgebaut werden.

Als sich die Gäste anschließend durch die Ausstellung bewegten, ging es nicht mehr um „die Betroffenen“ und „die anderen“. Die Fotografien von Meike Altenkamp und Daniel Gasenzer für „Das Leben ist mehr als …“ zeigen 21 Menschen – 11 mit, 10 ohne Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Wer ist wer? Die Ausstellung gibt keine Antwort. Sie konfrontiert sich stattdessen mit der Frage, ob diese Unterscheidung überhaupt wichtig ist.

Hinter jeder vermeintlichen Schwäche steckt eine Geschichte

In Gesprächen wird an diesem Abend etwas deutlich: Hinter jeder vermeintlichen Schwäche stehen Menschen mit Geschichten, mit Stärken, mit ungeahnten Fähigkeiten. Die VHS Essen bietet nicht nur kostenlose Lese- und Schreibkurse an, sondern mit dem VHS-Lerntreff auch einen geschützten Raum zum Lernen ohne Druck.

Die Ausstellungen „Lebenswelten gering Literalisierter“ und „Das Leben ist mehr als …“ sind nicht nur sehenswert – sie sind eine Einladung zum Perspektivwechsel, zur Begegnung auf Augenhöhe. Eine Einladung, die man nicht ausschlagen sollte.

Die Ausstellungen können noch bis zum 11. April zu den regulären Öffnungszeiten der VHS Essen besucht werden. Der Eintritt ist frei.
 

Zurück
VHS Direktor Stephan Rinke und die Erste Bürgermeisterin der Stadt Essen Julia Jacob (Foto: Andrea Kiesendahl)
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl
Foto: Andrea Kiesendahl